Politische und gesellschaftliche Motive der Werke von Max Frisch
Der zweite Weltkrieg spielte eine bedeutende Rolle für die Entwicklung der Politik, Kultur, Wirtschaft und Literatur der Nachkriegszeit in der Westlichen Zivilisation. Die meisten Länder, die an dem Krieg beteiligt waren, unterschieden sich aber nach dem Krieg stark voneinander. Einige Länder waren von dem Konflikt geografisch distanziert, aber andere Länder waren so involviert, dass sie als „Sieger“ oder „Besiegte“ bezeichnet wurden. Die Schweiz war wegen ihrer Neutralität geografisch beeinflusst, aber wurde weder als „Sieger“ noch als „Besiegter“ bezeichnet. Deshalb war die Schweiz in der Nachkriegszeit in einer besonderen Position, die auch in der zeitgenössischen Literatur zum Ausdruck kommt. Bei der Analyse der Werke von Max Frisch, der einer der wichtigsten schweizer Schriftsteller jener Zeit war, kann man diese einzigartige Perspektive im Rahmen der Literatur besser verstehen.
Diese Perspektive wird durch verschiedene Motive dargestellt, die wichtige Fragen über die gesellschaftlichen Probleme jener Zeit stellen. Vielleicht ist das wichtigste Thema, das diese Fragen sehr oft umfassen: „Du sollst dir kein Bildnis machen.“ Dieses Thema, das man nicht mit dem Bibelvers durcheinander bringen soll, wird in Frischs „Tagebuch“ diskutiert und von Eduard Stäuble als „eine Grundsatzerklärung […] [, die] entscheidend und unentbehrlich ist für das Verständnis seines ganzen Werkes“ beschrieben1. Die Bedeutung dieses Themas ist, dass die Bildnisse2, die wir jeden Tag von Personen, Gruppen und anderen Dingen kreieren, die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Friedens verhindern. Um dieses Thema sowie die besondere Perspektive in Frischs Werken besser zu verstehen, werden drei charakteristische Motive seiner Werke untersucht werden—der Gegensatz zwischen „wir“ und „,die anderen“ die Unfähigkeit der Intellektuellen und der Menschheit Einfluss auf die Weltgeschichte auszuüben und die Wiederholung der Geschichte.
Das Motiv des Gegensatzes zwischen „wir“ und „die anderen“ ist ein Motiv, das Frisch ziemlich oft untersucht und hier stellt er dadurch das Problem der Bildnisse sehr deutlich dar. Wenn es zwei entgegengesetzte Fraktionen gibt, nennt sich jede selbst als „wir“ und die gegenüber liegende andere Fraktion als „die anderen“ um einen Unterschied klar zu machen. Dieser Unterschied kann sehr stark sein, auch wenn er unrealistisch ist und nur als Propaganda benutzt wird. In Bezug auf dieses Motiv ist es wichtig zu verstehen, dass Frisch diesen Gegensatz von zwei unterschiedlichen Perspektiven beschreibt. Er zeigt eine nationalistische Perspektive, die die Gesamtmeinung der Leute von einer Fraktion repräsentiert und eine individuelle Perspektive, die die Meinung der Privatperson repräsentiert (und nicht immer ganz mit der nationalistischen Perspektive übereinstimmt).
Die Darstellung der nationalistischen Perspektive in seinen Werken zeigt auf, dass die entgegengesetzten Fraktionen oft sehr stark unterschieden werden. Die Unterscheidung ist aber normalerweise keine einfache objektive Klassifizierung, sondern ist so dargestellt, dass es immer für „uns“ günstig ist. Oft sind diese feindlichen Bildnisse einer nationalistischen Perspektive in den Werken von Frisch beschrieben.
In „Als der Krieg zu Ende war“ lesen wir schon auf den ersten Seiten, wie Gitta die Russen als „Lauter Mongolen“ bezeichnet3 und kurz danach nennt Horst die Russen „Russenschweine“[^frisch-2-235]. Auch haben die Russen ihr eigenes Bild der Deutschen, die wir kennen lernen, wenn der russische Offizier Ossip zu Agnes „[…] du Schwein, deutsches, du Mistvieh, germanisches“ sagt[^frisch-2-248]. Frisch betont durch Agnes –die Frau von Horst–, dass diese Benennungen nur Klischees einer nationalistischen Perspektive sind, weil sie Horsts Bezeichnung der Russen als „Russenschweine“ widerspricht: „Russenschweine, weißt du, das erinnert mich so an Judenschweine und all das andere, was unsere eigenen Schweine gesagt haben–und getan“4. Mit diesem Widerspruch zeigt Frisch, dass solch ein Klischee nicht nur falsch sein könnte, sondern auch, dass es eher eine realistische Repräsentation von „uns“ selbst sein könnte. Wir können diese Idee besser verstehen, wenn wir wissen, dass Horst an der Ermordung der Juden in Warschau teilnahm (Dem Text können wir das nur indirekt entnehmen, weil der dritte Akt entfernt wurde, in dem Horst seine Schuld anerkennt)5.
Solch ein feindliches Bildnis vom Gegenüber finden wir auch in „Die chinesische Mauer.“ In diesem Stück sagt der chinesische Kaiser nach einem Sieg gegen „die hündischen Barbaren der Steppe“ zu seiner Bevölkerung in der achten Szene:
[… die Barbaren], die sich dem großen Frieden widersetzten (was sie wollten, ihr wißt es, waren Friedensverträge auf zwanzig Jahre!), und die Welt ist unser, das aber heißt: es gibt auf dieser Welt nur noch eine einzige Ordnung, unsere Ordnung, die wir nennen die Große Ordnung und die Wahre Ordnung und die Endgültige Ordnung6.
Hier wird das Bildnis der Mongolen als „hündische Barbaren“ propagiert, auch wenn sie eigentlich Friedensverträge wollten. Frisch will damit sagen, dass eine nationalistische Perspektive auch benutzt wird, wenn es in Bezug auf den Willen und die öffentlichen Interessen unproduktiv ist. Der Kaiser benutzt Propaganda, um seine Macht zu beweisen und zu behalten. Ohne den Missbrauch dieses Bildes von den Mongolen wäre es möglich, den Frieden zu erreichen.
Ein weiteres Beispiel dieser Selbstbeschönigung erscheint in dem Stück „Andorra“, das Hans Bänziger folgendermaßen beschreibt:
Die Andorraner sind stolz auf ihre Gerechtigkeit, ihre Unschuld, ihre weißen Häuser. Viele von ihnen denken, sie könnten gar nicht angegriffen werden, weil das Recht auf ihrer Seite stehe. […] In ihren Augen [besteht] die Welt aus Weißen und Schwarzen, aus Gerechten und Ungerechten7.
Die „Weißen“ werden in diesem Kontext als die angeblich reinen Andorraner und die „Schwarzen“ als ihre angeblich bösen Nachbarn dargestellt, die als Ungeheuer bezeichnet werden, weil sie Juden verfolgen. Andri, der angeblich Jude ist, wird von den Andorranern benutzt, um ihre Toleranz und Gerechtigkeit zu beweisen8, weil er angeblich vor einem Pogrom der „Schwarzen“ gerettet wurde. Diese Toleranz existiert aber in Wirklichkeit nicht. Manfred Jürgensen schreibt, „Andorra“ handelt davon, dass die Unfähigkeit besteht die Wahrheit zu sagen, wenn die Gesellschaft ihre eigene Wahrheit schon geschaffen hat9. Das Ergebnis dieser eigenen Wahrheit ist, dass die Andorraner eigentlich schuldig sind und dass sie diese Schuld nicht bemerken, bevor sie Andri ermorden—weil er Jude ist. Im Laufe des Stücks verstehen wir, dass die Eigenschaften, mit denen die Andorraner die Juden beschreiben, eigentlich die Eigenschaften der Andorraner selbst sind10. Am Ende ähneln die Andorraner dem Bildnis der „Schwarzen,“ das sie als ihre Gegenseite kreiert hatten.
Diese nationalistische Perspektive wird aber normalerweise von der individuellen Perspektive widersprochen. Diese individuelle Perspektive unterscheidet sich von der nationalistischen Perspektive, weil die Gegensätze nicht so stark definiert sind und oft wegen des geringen Gewinns für „uns“ nicht so deutlich beschrieben werden. Gemeint ist damit, dass die Individuen der gegensätzlichen Gruppen einander einfach als Menschen verstehen können, auch wenn ihre entsprechenden Gruppen angeblich befeindet sind.
Wir haben die nationalistische Perspektive von „Als der Krieg zu Ende war“ schon diskutiert. Die individuelle Perspektive dieses Stücks unterscheidet sich, weil die Beziehungen zwischen einzelnen Menschen beider Gruppen bestehen. Agnes, die am Ende des Stücks in Stepan—der russische Soldat, der ihr Haus besitzt—verliebt ist, sieht Stepan natürlich nicht als ein „Russenschwein“ an. Bänziger schreibt, „Agnes lernt im russischen Obersten mehr als den Russen [zu] sehen, sie lernt einen Menschen [zu] lieben“7. Auch Horst hatte früher nette Beziehungen mit den Russen; wie aus Agnes’ Kommentar gegenüber Horst bevorgeht:
Ich kenne [die Russen] ja nicht. Nur aus deinen Erzählungen. […] Weihnachten bei russischen Bauern! Damals hast du immer so rührende Geschichten erlebt – […] Wunderbare Menschen! Geschwärmt hast du ja4
Horst hatte also menschliche Beziehungen mit den Russen, die sehr gut waren, aber seine nationalistische Perspektive über die Russen, die seine persönliche Perspektive übertrifft, ist, dass sie einfach „Russenschweine“ sind.
In „Die chinesische Mauer“ ist die individuelle Perspektive ein bisschen anders, weil keine menschliche Beziehung zwischen den Chinesen und Mongolen gezeigt wird, aber der individuelle Aspekt existiert trotzdem. Ein gutes Beispiel finden wir in dem Prinzen. Der Prinz glaubt angeblich an das Reich, das der Kaiser besitzt: „[Der Kaiser,]Hwang Ti: Vor unsern Toren stehen die Elemente – […] Prinz: Ich werde sie behandeln, wie sie es verdienen, als Agitatoren, Spione, Terroristen“11. Wir könnten wegen dieser Aussage glauben, dass er der nationalistischen Perspektive zustimmt und als General dem Kaiser und dem Land verantwortlich dienen will, aber später lernen wir, dass er das Reich nur verteidigt hat, um die Tochter des Kaisers heiraten zu können. Nachdem die Prinzessin den Prinzen allerdings ablehnt, kämpft der Prinz gegen das Reich. Das hätte er nicht gemacht, wenn er wirklich an die Prinzipien des Reichs geglaubt hätte. Eigentlich hatte der Prinz das Bild, das von dem Kaiser kreiert wurde, unterstützt, so lang er persönlich etwas davon bekommen konnte.
In „Andorra“ wird gezeigt, dass Andri, der angeblich wegen seiner ethischen Zugehörigkeit vor den „Schwarzen“ gerettet wurde, früher in seinem Leben viele gute Beziehungen mit den Andorranern hatte. Andri wurde von den Andorranern akzeptiert, auch wenn sie ein schlechtes Bildnis der Juden haben, weil Andri nach der Meinung der Andorraner „eine regelrechte Ausnahme“ war12. Die persönlichen Beziehungen sind aber schlecht geworden, als die Andorraner an ihrer nationalistischen Perspektive scheiterten und Andri auf Grund seiner ethischen Zugehörigkeit verfolgen.
Frisch benutzt diese zwei Perspektiven in seinen Werken um zu sagen, dass die nationalistische Perspektive und die individuelle Perspektive sich sehr oft unterscheiden. Dieser starke Unterschied ist wichtig, weil Frisch glaubte, dass eine nationalistische Perspektive für eine positive Entwicklung der Gesellschaft nicht von Vorteil war. Frisch sagte in einem Vortrag, dass Frieden in einer Gesellschaft nur erreicht werden kann, wenn die Leute von ihren Sündenböcken los kommen können und auch aufhören können, ihre feindlichen Bildnisse zu benutzen13. Diese Idee wird auch in seinen Werken gezeigt. In „Als der Krieg zu Ende war“, „Die chinesische Mauer“ und „Andorra“ werden nationalistische und individuelle Perspektiven dargestellt, die nicht immer zusammen passen. Dieses Gefühl, dass die Unterscheidung der Menschen auf Grund ihrer nationalistischen Identitäten falsche Bilder erschafft, hat er auch gezeigt, als er über das dritte Reich schrieb:
Wenn Menschen, die gleiche Worte sprechen wie ich, und eine gleiche Musik lieben wie ich, keineswegs gesichert sind, Unmenschen zu werden, woher beziehe ich fortan meine Zuversicht, dass ich davor gesichert sei?14
Weil Frisch die zwei Weltkriege in der Schweiz und nicht direkt in Deutschland erlebte, musste er sich nie dafür verantwortlich fühlen, als ein Bewohner Deutschlands, Hitler und die Nazis unterstützt zu haben. Trotzdem musste er mit dem Gedanken zu Recht kommen, dass die Schweizer nicht versucht hatten die Ausbreitung des Nationalsozialismus aktiv zu verhindern. Frisch und viele zeitgenössische Intellektuelle glaubten, dass die Schweizer den Zweiten Weltkrieg nur zufällig als Beobachter erlebten. Sie fürchteten, dass die Schweizer auch so etwas hatten machen können, besonders weil sie—wie Butler es nennt—ein Biedermann-Syndrom hatten15. Butler leitet dieses Syndrom von „Biedermann und die Brandstifter“ ab, in dem Herr Biedermann nicht glauben will, dass sein Haus ausgebrannt wird, auch wenn die Brandstifter Benzinkanister in seinen Dachboden bringen und ihn am Ende sogar um Streichhölzer bitten. Wegen solcher falschen Bildnisse kann man die Realität einfach nicht sehen.
Wenn manche Individuen ein besseres persönliches Verständnis über ihre „Feinde“ haben können, warum können sie aber so schreckliche Ereignisse wie den zweiten Weltkrieg nicht vermeiden? In seinen Werken erklärt Frisch, warum diese Individuen trotz ihrer klaren Verständnis der Lage scheitern. Frisch zeigt nicht, wie schon gesagt, dass alle Leute mit diesen falschen Perspektiven unkundig sind, sondern er zeigt, dass die Leute, die die Absurdität dieser eingebildeten Bildnisse verstehen können, die Gesamtperspektive einfach nicht genug beeinflussen können, um das Geschehen zu beeinflussen. Einige dieser Leute, die als Intellektuelle beschrieben werden, bleiben erfolglos, weil sie von tyrannischen Fraktionen bezwungen werden. Andere dieser Leute sind nicht erfolgreich, weil die Macht der Massen einfach zu stark ist.
Zu dem Thema der Unterwerfung von den Intellektuellen zeigt Frisch, dass die Intellektuellen machtlos sind, die Gesellschaft zu ändern. Die Intellektuellen verstehen zwar das Problem, aber die Leute, denen die Macht gehört, benutzen sie für ihren eigenen Zweck.
Der Kaiser in „Die chinesische Mauer“ verhindert die Proteste des Intellektuellen, indem er dem Intellektuellen in seiner Regierung die Rolle als Hofnarr zuweist16. Später nach seinem Vortrag, in dem er die Untaten des Kaisers beschreibt, wurde der Intellektuelle mit einem Literaturpreis belohnt. Der Kaiser erklärt, dass er diesen Preis bekommt, weil er die Zeit, bevor der Kaiser an der Macht war, so gut beschrieben hatte. Natürlich beschrieb der Intellektuelle nicht diese Zeit, sondern er beschrieb die Zeit, in der der Kaiser eigentlich an der Macht war. Mit der Belohnung und der Erklärung des Preises, konnte der Kaiser nicht nur die Kritik des Intellektuellen erfolgreich abwenden, sondern vermutlich auch gleichzeitig die Kultur unterstützen. In solch einer Situation werden die Intellektuellen benutzt um die falschen Bildnisse (und die Regierung) zu verstärken.
Auch wenn die Menschen, die die Probleme einer Gesellschaft verstehen können, nicht für einen tyrannischen Zweck benutzt werden, werden sie doch unterdrückt, weil die Gefühle und der Glauben der ganzen Gesellschaft viel zu stark sind. Diese Macht der Massen und deren Bildnisse sind so stark, dass es die Leute überwältigt.
Ein beeindruckendes Beispiel dieses Phänomens ist die Veränderung von Andri in „Andorra“. Die Bevölkerung von Andorra (einschließlich Andri) glaubt, dass Andri Jude ist, aber eigentlich ist er Andorraner. Am Anfang benimmt sich Andri wie ein normales Kind, aber die Andorraner sagen immer, dass er sich wie ein Jude benimmt. Im Laufe des Stücks führt das Verhalten der Bevölkerung zu einer Veränderung von Andris Wesen. Die Macht der Massen macht Andri zu dem stereotypischen Jude, der nach der Meinung der Bevölkerung geschaffen wurde17. Am Ende haben die Andorraner dieses Bild so stark gefestigt, dass Andri seinem Vater nicht glauben kann, wenn er Andri erklärt, dass er eigentlich andorranisch ist, auch wenn seine andorranische Volkszugehörigkeit sein Leben retten könnte.
Auch in „Die chinesische Mauer“ können wir die Macht der Massen finden. Wang, der stumm ist und als „die Stimme des Volkes“ bezeichnet wird, wird wegen seines vermuteten Landesverrats gefoltert. „Der Heutige“ versucht die Absurdität dieser Situation zu erklären, aber der Kaiser will ihm nicht zuhören. Später findet „Der Heutige“ die Mutter von Wang und erklärt ihr, dass sie dem Kaiser sagen muss, dass ihr Sohn stumm ist und dass er deswegen überhaupt nicht „die Stimme des Volkes“ sein kann. Die Mutter wird aber von der Macht der Massen so bestürmt, dass sie glauben will, dass ihr Sohn die Befreiungsbewegung verursacht hatte. Der Patriotismus der Massen macht Wang zu einem Helden des neuen Reichs. In diesem Stück, sowie in „Andorra“, wird das Bild, das von der Gesellschaft kreiert wurde, so stark, dass die einzelnen Menschen, die wegen des Bildes leiden, auch überredet werden, sich damit zu indentifizieren.
Das Motiv der Unfähigkeit der Intellektuellen und der Menschheit ist fest verbunden mit dem Motiv der Wiederholung von der Geschichte. Dieses Motiv zeigt, dass Varianten der gleichen Ereignisse immer wieder von den Menschen wiederholt werden, weil die grundsätzlichen Probleme der Menschheit (vor allem, die Erstellung der Bildnisse), die diese Wiederholung tatsächlich verursachen, nie korrigiert werden.
Ein gutes Beispiel dieser Wiederholung ist die Darstellung von revolutionären Versuchen, die erfolgreich mit ihrer Machtergreifung sind, aber mit ihrem Ziel, um ihre revolutionären Ideen durchzuführen, nicht erfolgreich sind. Diese Versuche sind misslungen, weil die Macht, die die Revolutionäre bekommen, auch die Korruption fördert, die die Revolutionäre angeblich ersetzen wollten. In solch einer Situation ist das Ergebnis ein Ersatz einer Tyrannei durch eine neue Tyrannei.
Solch einen Ersatz finden wir in „Die chinesische Mauer.“ Als der Prinz erfährt, dass er die Tochter des Kaisers nicht heiraten kann, verändert er seine Rolle, indem er Anführer einer Befreiungsbewegung wird. Er fängt aber sofort mit der Liquidierung seiner Opposition an und „Der Heutige“ plädiert:
Seht ihr denn nicht, was hier gespielt wird? Unser Prinz, der jetzt als Mann des Volkes sich aufspielt (wie es beim Militärputsch üblich ist), […] würde es natürlich begrüßen, wenn die Stimme des Volkes, das er mißbraucht, ein Stummer wäre!“18
Hier will Frisch zeigen, wie der Prinz vorgibt ein Revolutionär zu sein, auch wenn er nur eine neue Tyrannei bauen will in der er endlich Sieger ist. Damit zeigt Frisch das Wesen dieser Wiederholung, die später nochmals betont wird:
Brutus: Was gibt’s? Der Heutige: Wir spielen nicht weiter! Brutus: Was ist der Grund? Der Heutige: Weil die ganze Farce soeben von vorne beginnt . . .“19
Frisch meint, dass diese Wiederholung nicht nur in diesem Stück existiert, sondern dass die Wiederholung schon immer historisch existiert.
Das Problem der Wiederholung, das durch die grundsätzlichen Probleme der Menschen verursacht wird, finden wir auch in „Biedermann und die Brandstifter.“ Am Anfang liest Herr Biedermann die Zeitung und moniert: „Aufhängen sollte man sie. Hab ich’s nicht immer gesagt? Schon wieder eine Brandstiftung. Und wieder dieselbe Geschichte, sage und schreibe: wieder so ein Hausier, […] ein harmloser Hausierer“20. Natürlich versteht Herr Biedermann, dass die Brandstifter in seiner Umgebung sind und er weiß ganz genau, wie sie ihre Taten ausführen. Trotzdem will er wegen seiner Selbstverlogenheit nicht glauben, dass so etwas in seinem Haus passieren könnte. Die Besitzer der anderen Häuser, die ausgebrannt wurden, hatten das sicherlich auch geglaubt, aber jedes Mal passierte das Gleiche. Weil die Besitzer, sowie die Bevölkerung in „Die chinesische Mauer,“ die falschen Bildnisse von den anderen und auch von sich selbst nicht auflösen können, werden sie von der Wiederholung dieser Ereignissen immer unterworfen werden.
Wenn Frisch die Ideen des zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit beschreibt, zeigt er, dass die menschlichen Fehler, in jener Zeit existierten. Die Propaganda und die Bildnisse beweisen das Verlangen der Menschen, Bilder als ein Abwehrmittel zu benutzen. Aber existieren diese Fehler heute noch?
In „die chinesische Mauer“ will Frisch erklären, dass die gleichen Ursachen, die den Bau der chinesischen Mauer hervorgerufen haben, auch die Entwicklung der Atombombe verursacht haben21. Auch können wir heute sehen, dass diese Ursachen solche Ereignisse, wie den Bau der Berliner Mauer und den Bau der Mauer in Israel oder Zypern oder Korea, verursacht haben. Weil diese Ereignisse nicht vermieden wurden, auch wenn einige Leute deren Absurdität bemerkten und weil falsche Bildnisse als Unterstützung dieser Absurditäten benutzt wurden, verstehen wir, dass die Ideen von Frisch nicht nur zu jener Zeit gehören, sondern auch (wie die Wiederholungen in seinen Texten erklären) zu unserer Zeit gehören. Deshalb ist die Kritik von Frisch noch heute angemessen und wir sollten deswegen unsere modernen Bildnisse untersuchen und aktiv bekämpfen.
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In diesem Kontext sind „Vorurteile“ gemeint. „Bildnis“ wird in dieser Arbeit benutzt, weil dieser Terminus von Frisch verwendet wurde. ↩
-
Stäuble, Eduard. Max Frisch: Gesamtdarstellung seines Werkes. 3.Ed. St. Gallen: Erker-Verlag, 1967. ↩
-
Frisch, Max. Max Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. 2.Ed. Hans Mayer and Walter Schmitz. Vols. 2, 4. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976. ↩ ↩2 ↩3 ↩4 ↩5 ↩6 ↩7 ↩8
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Weisstein, Ulrich and Sylvia E. Bowman, eds. Max Frisch. Twayne’s World Authors Series. New York: Twayne, 1967. ↩
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Bänziger, Hans. Zwischen Protest und Traditionsbewußtseins. Bern: Francke Verlag, 1975. ↩
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Butler, Michael. The Plays of Max Frisch. New York: St. Martin’s, 1985. ↩ ↩2 ↩3 ↩4 ↩5 ↩6 ↩7
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Weiss, Sydna. “From Hiroshima to Chernobyl: Literary warnings in the nuclear age.”
Papers on Language and Literature 26.1 (1990): 90-111. ↩ -
Probst, Gerhard F. and Jay F. Bodine, eds. Perspectives on Max Frisch. Lexington: UP of Kentucky, 1982. ↩